vietnamesische Literatur

vietnamesische Literatur
vietnamesische Literatur
 
[viɛt-]. In der vietnamesischen Literatur wird bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen Van hoc mieng (mündliche Literatur) und Van hoc bac hoc (Gelehrtenliteratur) unterschieden. Bereits die mündliche Literatur, auch Van hoc dan gian (Volksliteratur) genannt, zeigt eine Vorliebe für den Vers. Die Mehrzahl der Gattungen und Genres der Volksliteratur ist in Reimform überliefert, z. B. das Cheo (Volkstheater), das Mua roi nuoc (Wassermarionettentheater mit auf lange Holzleisten montierten Marionetten, die von Spielern auf der Wasseroberfläche in einem Bühnenbild bewegt werden), der intonierte Sinn- oder Lehrspruch, der alternierend vorgetragene Liebesgesang sowie zum Teil auch die Fabel und das Märchen.
 
Mit der Überwindung der 1 000-jährigen chinesischen Herrschaft (111 v. Chr.-939 n. Chr.) und der Gründung des ersten vietnamesischen Staates (968) waren günstige Bedingungen für die Entwicklung einer vietnamesischen Literatur entstanden. Die Eröffnung der ersten Universität in Thang Long (heute Hanoi) 1076 unterstrich die Bestrebungen der Vietnamesen nach Eigenständigkeit. Dennoch blieb die vietnamesische Literatur nicht unbeeinflusst von ihrem nördlichen Nachbarn. Vom 10. bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts wurden die Werke der Gelehrtenliteratur fast ausschließlich in chinesischer Sprache (chu Han) verfasst, obgleich seit dem 13. Jahrhundert eine vietnamesische Schriftsprache (chu Nom) existierte. Auch Stoffe, Symbole und v. a. Genres der chinesischen Literatur wie Weissagung, episches Gedicht, königlicher Erlass u. a. fanden sich in der vietnamesischen Literatur wieder. Aus dieser Zeit sind nur wenige Texte erhalten, z. B. religiös geprägte Bekenntnisse zum Buddhismus und Taoismus (10./11. Jahrhundert), patriotische Verse von Ly Thuong Kiet (11. Jahrhundert), eine Geschichte von Dai Viet in 30 Bänden von Le Van Huu (13. Jahrhundert) oder die bedeutsame Sammlung von Legenden, Sagen, historischen Berichten und Biographien von Ly Te Xuyen (14. Jahrhundert), »Viet Dien U Linh« (deutsch »Unsichtbare Mächte im Lande der Viet«). Nach dem Sieg über die Armee der Mingdynastie (1428), die einen Großteil der vietnamesischen Literatur systematisch vernichtet hatte, entwickelten sich sowohl der vietnamesische Staat als auch Kunst und Kultur erstmals zur vollen Blüte. Der Konfuzianismus wurde Staatsdoktrin, und damit kam der Literatur eine herausragende Rolle zu: So bestand die konfuzianische Beamtenprüfung fast ausschließlich aus literarischen Fächern. Auch die vietnamesische Schriftsprache durfte offiziell verwendet werden. Nguyen Trai (* 1380, ✝ 1442) gehört zu den Literaten, die sowohl in vietnamesischer als auch in chinesischer Sprache schrieben. Neben zahlreichen Gedichtsammlungen und dem ersten geographischen Werk in vietnamesischer Sprache verfasste er 1428 die berühmte »Binh Ngo dai cao« (deutsch »Proklamation über die Befriedung der Ngo«). Obgleich der vietnamesische Staat in den folgenden Jahrhunderten ständig durch Krisen, Kriege und Machtkämpfe geschwächt wurde, entwickelte sich die vietnamesische Literatur dynamisch und vielfältig. Das Gattungssystem, bestehend aus Versliteratur, Parallelliteratur (Mischung zwischen Vers und Prosa) und Prosa, stabilisierte sich und trat in fast allen Genres, außer in denen der Prosa, zweisprachig auf. Eines der bedeutendsten Werke in chu Nom legte Nguyen Binh Khiem (* 1491, ✝ 1585) vor: »Bach Van am thi tap« (Gedichtsammlung in der Pagode »weiße Wolke«), mehrere Hundert Gedichte, in denen er die persönliche Befindlichkeit im selbst auferlegten Asyl (in der Pagode »weiße Wolke«) und die Zustände seiner Zeit festhielt. Nach ihrer Anerkennung als Literatursprache wurde chu Nom zunehmend benutzt, um Kritik gegenüber dem Staat zu äußern. Das führte dazu, dass Werke in chu Nom nicht nur zensiert (16. Jahrhundert) wurden, sondern im 17. Jahrhundert auch verboten waren. Dennoch entstand Ende des 17. Jahrhunderts das umfangreichste Nom-Werk der vietnamesischen Literatur unter dem Titel »Thien Nam ngu luc« (Annalen des göttlichen Südens), worin ein unbekannter Autor (in über 8 000 Verszeilen) die sozialen Lebensbedingungen der Menschen im krisengeschüttelten Vietnam beschreibt. Im 18. Jahrhundert standen die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die unterdrückte Stellung der Frau, die Scheinheiligkeit der Mönche und die heuchlerische Moral der Beamten im Mittelpunkt der vietnamesischen Literatur. Die Dichterinnen Doan Thi Diem (* 1705, ✝ 1748) und Ho Xuan Huong (Ende 18. bis Mitte 19. Jahrhundert) waren die wichtigsten Vertreterinnen dieser Literatur. In dieser Zeit entstanden in der Versliteratur (in chu Nom) zahlreiche neue Genres. Besonders der Versroman (als Volks- und Gelehrtenroman) avancierte zur beliebtesten Gattung des 18. und 19. Jahrhunderts. Der Dichter Nguyen Du (* 1765, ✝ 1820) schuf mit seinem Versroman »Truyen Kieu« (Anfang 19. Jahrhundert; deutsch »Das Mädchen Kieu«) das bis dahin bedeutendste Sitten- und Gefühlsgemälde der Vietnamesen, das sprachlich eines der schönsten Werke der vietnamesischen Literatur darstellt.
 
Im 20. Jahrhundert kam es v. a. durch europäische Einflüsse zu einer völligen Veränderung des vietnamesischen Gattungssystems. Vers- und Parallelliteratur wurden durch eine moderne Epik und Dramatik verdrängt. Die Sprengung der strengen Regeln der Dichtkunst ließ auch eine neue Lyrik entstehen. Diese Prozesse waren etwa mit Beginn der 1930er-Jahre abgeschlossen. Neue literarische Methoden, die sich in realistischen, romantischen und revolutionären Strömungen und Bewegungen niederschlugen, trugen zur Herausbildung einer modernen vietnamesischen Literatur bei. Nguyen Cong Hoan (* 1903, ✝ 1977), Khai Hung (* 1896, ✝ 1947) und To Huu (* 1920), wichtige Vertreter der verschiedenen Richtungen, verdeutlichten mit ihren Werken die Vielfalt der Entwicklung der vietnamesischen Literatur in den 1930er- und 40er-Jahren. In der Zeit des Vietnamkrieges dominierten Lyrik und Kurzformen der Epik. Themen und Methoden waren fast ausschließlich auf den Befreiungskrieg und die Herausbildung des »neuen« Menschen im Sozialismus ausgerichtet. Die vietnamesische Literatur und ihre Vertreter wurden, wie zu Blütezeiten des Konfuzianismus, zu Vermittlern politischer und ideologischer staatlicher Normen. Auch in Süd-Vietnam fanden die Züge der modernen Literaturentwicklung der 30er- und 40er-Jahre keine Fortführung. Erst seit den 80er-Jahren bekam die vietnamesische Literatur durch Schriftsteller wie Le Luu (* 1942), Ma Van Khang (* 1936), Nguyen Huy Thiep (* 1950), Duong Thu Huong (* 1947) u. a. neue Impulse. Besondere Merkmale ihrer Werke sind die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, die Widersprüchlichkeit und Verschiedenheit der literarischen Figuren sowie das Ausbrechen aus der Enge der rein vietnamesischen Themen.
 
Ausgaben: Erkundungen. 16 vietnamesische Erzähler, herausgegeben von A. und K. Möckel (21979); Vom hochgelehrten Kuin. Vietnamesische Schelmengeschichten, herausgegeben von N. I. Nikulin u. a. (aus dem Russischen, Leipzig 1979); Vietnamesische Märchen, übersetzt von I. Kondrková (aus dem Tschechischen, 1991).
 
 
M. M. Durand u. T. H. Nguyen: An introduction to Vietnamese literature (New York 1985);
 
BI-Lex. ostasiat. Literaturen, hg. v. J. Berndt (Leipzig 21987);
 U. Lies: Literaturakademie der 28 Sterne. Der vietnames. Roman. 1 000 Jahre Literaturtradition in Gesch. u. Theorie (1991).

Universal-Lexikon. 2012.

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